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Gattungsgeschichtlicher
Überblick
Die Frage nach dem Ursprungsland der Fabel ist umstritten.
In der Fachliteratur werden häufig Indien und Griechenland, aber auch
Ägypten und Babylonien genannt.
Untersuchungen zur „Genese der Fabel" führen
jedoch zu der Annahme, dass die Fabel als eine „Urform unserer Geistesbetätigung"
in verschiedenen Regionen unabhängig voneinander entstanden ist.
Gleiche Voraussetzungen - etwa die in allen Gebieten
im Wesentlichen gleiche soziale Gliederung in Herren und Knechte und die
Spannungen, die zwischen beiden Schichten herrschten - haben
zur Ausprägung gleicher sozialkritischer Intentionen und zur Ausbildung
nahezu gleicher sprachlicher Formen geführt.
Die ältesten überlieferten Fabeln stammen u. a. von Hesoid
(um 700 v. Chr.) und Archilochos (um 650 v. Chr.).
Der phrygische Sklave Aesop (um 550 vor Chr.) soll angeblich als
erster Fabeln indischer und griechischer Herkunft gesammelt
und aufgezeichnet haben. Dass sein Name untrennbar mit der Geschichte der
Fabel verbunden ist, erklärt sich zum einen aus der großen Zahl
und der Qualität seiner Fabeln, zum anderen aus der Tatsache, dass
zahlreiche Fabeldichter späterer Zeiten auf die Fabeln Aesops zurückgreifen
und seine Motive, sein Figureninventar, seine Kompositionsprinzipien oft
nur variieren .
Typische Charakteristika der Fabeln Aesops sind: „klarer Aufbau,
anschauliche Erfassung der Szene, behaglicher Ton der Gespräche, auf
jener Elementarstufe geistiger Entwicklung, wo der Mensch noch ganz auf
du und du mit Tier und Pflanze und aller Kreatur zu verkehren vermag" (2).
Die Fabeln Aesops wurden von Babrios in Versform umgedichtet, von
Phaedrus (um 50 nach Chr. Geb.) unter Verstärkung des lehrhaften Elementes
und später von Avianus ( um 400 nach Chr. Geb.) in lateinische
Verse übertragen und schließlich in Prosa aufgelöst. Bereits
bei Phaedrus hatte die Bezeichnung „Fabel" die Qualität eines Gattungsbegriffs.
Auf deutschem Boden wurde die Fabeldichtung innerhalb der lateinischen
Klosterliteratur des Mittelalters gepflegt und weitergegeben. Der moralisch-didaktische
Zweck und die lehrhaft-symbolische Bedeutung machten die Fabel zu einer
geeigneten Erzählform für Predigten und Beispielsammlungen. Daher
blühte diese literarische Art am stärksten in ausgeprägt
rationalen Zeiten, die etwa aufklärerische oder gesellschaftlich-umstrukturierende
Tendenzen verfolgten.
Im 16. Jahrhundert gedeiht die Fabel als agitatorische Kleinkunst
der Reformationszeit. Insbesondere bei Erasmus Alberus und Burkhard Waldis
dient die Fabel als Kampfmittel ihres religionspolitischen Kampfes gegen
die katholische Kirche. Luther verhält sich in dieser Hinsicht zurückhaltender.
Er nutzt die Fabel, um seine religiös-moralischen Ansichten zu veranschaulichen,
denn er hat erkannt, dass theoretische Anweisungen zum ethisch-richtigen
Handeln weniger überzeugen und bewirken als anschauliche Geschichten,
in denen dem falsch Handelnden irgendein Schaden zustößt.
Luther stellt die Fabel so bewusst in den Dienst seiner ethisch-moralischen
Intentionen. Während die Fabeln des Burkhard Waldis und Erasmus Alberus
eher abstrakt und episch breit erscheinen, zeichnen sich die Fabeln Luthers
durch knappste Prosaformulierungen aus.
Erzählung und Lehre werden klar getrennt: der Leser wird
zum eigenen Mitdenken angeregt. Indem Luther weitgehend im bildlichen Bereich
bleibt und abstrakte Formulierungen und Wendungen vermeidet, steigert er
die Wirkung seiner Fabeln: „Der Leser wird nicht aus dem Erzählton
gerissen, die Lehre überfordert ihn nicht durch eine ungewohnte Höhe
der Abstraktion." (3)
Es ist bezeichnend, dass die Reformationszeit mit ihrem unverhüllten
Aufklärungscharakter und ihren eindeutig moralisch-didaktischen Tendenzen
von der Fachliteratur so ausgiebig Gebrauch machte, während das Barockzeitalter
seine Zeitkritik und seine satirischen Absichten in anderen literarischen
Formen zum Ausdruck brachte.
Eine eindeutige und wohl vorläufig letzte Hochblüte erlebte
die Fabel im 18. Jahrhundert. Die Befreiung von der feudalherrschaftlichen
Gesellschaftsordnung, sowie die geistige, soziale und politische Aufklärung,
die zur Französischen Revolution führte, muss als Hintergrund
für den Aufschwung der Fabel in dieser Epoche gesehen werden. Während
La Fontaine deutlich Einfluss auf die Mehrheit der deutschen Fabeldichter
wie Gellert, Gleim und Hagedorn ausübten, wandte sich Lessing entschieden
gegen diese leichte, weitschweifige und ironisch-kritische Erzählweise.
Die Fabel muss seines Erachtens epigrammatisch kurz sein.
In den meisten seiner Fabeln führte Lessing die alte Tradition
fort, indem er durch Kontamination von zwei bekannten Motiven oder durch
Änderung einzelner Requisiten auf vorhandene Fabeln (z. B. Aesops
oder Luthers) zurückgriff und so „neue" Fabeln mit erweitertem oder
verändertem Aussagegehalt schaffte.
Dass die Fabel auch im 20. Jahrhundert nicht tot ist, wie oft in
der Fachliteratur behauptet wird, beweisen die Fabelsammlungen von Helmut
Arntzen, Rudolf Kirsten, Wolfdietrich Schnurre, James Thurber u.a.
Ein auffälliges Merkmal der modernen Fabel ist die „Verbindung zwischen
Tradition und Ironisierung und Infragestellung dieser Tradition"
(4), die besonders bei Helmut Arntzen deutlich wird. Während
die Fabeln Rudolf Kirstens noch am ehesten die Tradition von Aesop und
Lessing fortführen, stehen die Fabeln Wolfdietrich Schnurres, in denen
es u.a. um „das braune Fell", um die unbewältigte Vergangenheit, um
die Schuldfrage und um „die Möglichkeit, die Farbe genügend oft
zu wechseln" geht, vielfach in der Nähe des Aphorismus (5).
Die „75 Fabeln für Zeitgenossen" von James Thurber, in
denen der Dichter mit humorvoll-gewürzter Moral typische Schwächen
der modernen Gesellschaft und des Menschen aufzeigt, tendieren eher zur
Satire und Ironie.
Die Ironisierung und Infragestellung der Fabeltradition hat zu der
These geführt, die moderne Fabel habe mit den „traditionellen Strukturformen
der Gattung gebrochen; diese seinen nicht mehr in der Lage gewesen, die
politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft
zu bewältigen" (6).
Doch gerade in unserer durch Massenmedien aufgeklärten und emanzipierten
Gesellschaft erlebt die Fabel im Unterricht eine neue Renaissance, deren
Ursachen in einem „geschärften Bewusstsein für den Zusammenhang
von Text und Wirklichkeit" (7) gesehen wird.
_____________________________
(2) Zitiert aus: R. Dithmar, Die Fabel, Paderborn
1974. S. 17
(3) Zitiert aus: E. Leibfried, Fabel. Stuttgart
1976. S. 63.
(4) Zitiert aus: F.-J. Payrhuber, Wege zur Fabel.
Freiburg im Breisgau 1978. S. 20.
(5) Zitiert aus: R. Dithmar, a.a.O., S. 75
ff.
(6) Zitiert aus: R. Dithmar, a.a.O., S. 21
(7) Zitiert aus: E. Leibfried, a.a.O., S. 102 f.
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