Die verkleidete Wahrheit

Da die Wahrheit oft unerträglich ist und auf erbitterten Widerstand stößt,  zudem das „unverblümte" Vorhalten einer unangenehmen Wahrheit gefährlich werden kann,  überwindet die Fabel den Widerstand des Adressaten, indem sie die bloßzustellenden Kriterien vom menschlichen Bereich auf den nichtmenschlichen überträgt  und sie in ein anderes, buntes Gewand hüllt. 
 
Die Fabel ist somit ein  „vorzügliches Kampfmittel in der politischen, sozialen und religiösen Auseinandersetzung" (10)
Die Übertragung auf den nichtmenschlichen Bereich dient somit nicht allein der Anschaulichkeit, sie bedeutet zugleich einen Schutz für den Erzähler, denn im Narrengewand darf man unter Umständen auch einem Tyrannen die Wahrheit unter die Nase reiben - eine Wahrheit, die man ihm direkt niemals zu sagen wagte. 

Martin Luther 

Über die Fabel

Alle Welt hasset die Wahrheit, wenn sie einen trifft. 
Darum haben weise hohe Leute die Fabeln erdichtet und lassen ein Tier mit dem anderen reden, als wollten sie sagen: Wohlan, es will niemand die Wahrheit hören noch leiden, und man kann doch der Wahrheit nicht entbehren, so wollen wir sie schmücken und unter einer lustigen Lügenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden; und weil man sie nicht will hören aus Menschenmund, dass man sie doch höre aus Tier- und Bestienmund. 
So geschieht's denn, wenn man die Fabeln liest dass ein Tier dem andern, ein Wolf dem andern die Wahrheit sagt, ja zuweilen der gemalte Wolf oder Bär oder Löwe im Buch dem rechten zweifüßigen Wolf und Löwen einen guten Text heimlich liest, den ihm sonst kein Prediger, Freund noch Feind legen dürfte.
 
 

Magnus Gottfried Lichtwer

Die beraubte Fabel

Es zog die Göttin aller Dichter, 
Die Fabel, in ein fremdes Land, 
Wo eine Rotte Bösewichter
Sie einsam auf der Straße fand.

Ihr Beutel, den sie liefern müssen, 
Befand sich leer; sie soll die Schuld
Mit dem Verlust der Kleider büßen. 
Die Göttin litt es mit Geduld.

Mehr, als man hoffte, ward gefunden, 
Man nahm ihr Alles; was geschah?
Die Fabel selber war verschwunden, 
Es stand die bloße Wahrheit da.

Beschämt fiel hier die Rotte nieder, 
Vergib uns, Göttin, das Vergehn, 
Hier hast du deine Kleider wieder,
Wer kann die Wahrheit nackend sehn?
 
 
 

Das  Pro-  und  Epimythion

Da die Fabel einen konkreten Wirklichkeitsbezug hat und diese Wirklichkeit ins „Fabelhafte" übertragen wird,  muss zum Verständnis der Fabel zwischen einem BILDTEIL  und einem SACHTEIL  unterschieden werden. 
Während uns der Bildteil mit der Fabel selbst vorgegeben wird, sind wir bezüglich des Sachteils auf die Entschlüsselung der in der Fabel zugrunde liegenden Begebenheit angewiesen. Der ursprüngliche „Sitz im Leben" einer Fabel  (das ist die konkrete ursprüngliche Situation, in der die Fabel entstanden ist)  ist nur in den wenigsten Fällen bekannt, weil er nicht überliefert wurde. 
 
Oft soll der fehlende Sachteil daher durch ein sogenanntes Promythion oder Epimythion,  d. h. durch einen Merk- oder Lehrsatz, den man der Fabel im Zuge der Überlieferung vor- oder nachgestellt hat, ersetzt werden. Dieses Pro- oder Epimythion, d. h. der mit „Lehre", „Moral", „Merke" oder ähnlich eingeleitete Spruch, kann helfen, die Aussageabsicht der Fabel leichter zu erschließen. 
 
Allerdings nimmt ein Pro- oder Epimythion dem Leser einen wesentlichen Reiz der Fabel: nämlich den der eigenen Überlegung und Erschließung des Gehalts und der Intention. 
 
Das bedeutet, dass dieser Zusatz dem Leser die eigene gedankliche Arbeit, die Reflexion und die Suche nach dem Wirklichkeitsbezug,  der bei jedem Leser aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshorizonte durchaus ein anderer sein kann,  weitestgehend vorwegnimmt. 
 
Ein Pro- oder Epimythion ist also eher überflüssig, da eine Fabel so beschaffen sein muss, dass der Leser die enthaltene Lehre mühelos entdecken und auf seine Realität beziehen kann. 
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(10)  Zitiert aus:  R. Dithmar, a.a.O.,  S. 132. 
 
 



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