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Göttersagen
(Textbeispiele)
Vom Anfang der Welt
Thor holt seinen Hammer
Baldurs Tod
Götterdämmerung
Vom Anfang
der Welt
Es gab eine Zeit, da alles nicht war. Da war nicht Sand noch See, nicht
das Meer und die Erde, nicht der Himmel mit seinen Sternen. Im Anfang war
nur Ginnungagap, das gähnende, lautlose Nichts. Da schuf Allvaters
Geist das Sein, und es entstand im Süden Muspelheim, das Land der
Glut und des Feuers, und im Norden Niflheim, das Land der Nebel, der Kälte
und Finsternis. Aus dem Norden, in Niflheim, entsprang ein tosender Quell,
aus dem zwölf Ströme hervorbrachen. Die stürzten in den
Abgrund, der Norden und Süden trennte, und erstarrten zu Eis.
Aus Muspelheim flogen Funken auf das Eis, die Starre begann zu schmelzen,
und der Riese Ymir taute daraus hervor und danach Audhumbla, eine riesige
Kuh, von deren Milch Ymir sich nährte. Eines Tages sank Ymir, nachdem
er sich satt getrunken hatte, in tiefen Schlaf, und aus seinen Achselhöhlen
wuchsen zwei Riesenwesen, Mann und Weib. Diesen beiden entstammt das Geschlecht
der Frost- und Reifriesen.
Audhumbla, die nirgends Gras fand, leckte an den salzigen Eisblöcken,
und ihre Zunge löste am dritten Tage einen Mann aus dem Eise, der
war stark und schön und nannte sich Buri. Er erschuf aus eigener Kraft
einen Sohn, der hieß Börs und nahm Bestla, die Tochter des Riesen
Bölthorn, zum Weibe.
Börs zeugte mit Bestla drei Söhne: Odin, Wili und We. Mit
ihnen kam das Göttergeschlecht der Asen in die Welt.
Odin, Wili und We zogen aus, um die Herrschaft über die Schöpfung
zu gewinnen. Sie erschlugen den alten Riesen Ymir. Die Blutströme
aus Ymirs Wunden überfluteten die Welt, und alle Frostriesen ertranken.
Nur ein einziger, Bergelmir, rettete sich mit seinem Weibe in einem Boot.
Diese beiden wurden die Ahnen der späteren Riesengeschlechter.
Den toten Leib Ymirs warfen die Brüder Odin, Wili und We in den
Abgrund zwischen Muspelheim und Niflheim und schufen aus ihm die Erde.
Aus Ymirs Blut entstanden die Wasser der Ströme und Meere, aus seinem
Fleisch die Erde, aus Knochen und Zähnen Berge und Felsen, aus seinem
Schädel wurde die Wölbung des Himmels geschaffen. Als die Asen
das Hirn des Riesen in den Himmel schleuderten, blieb es als Wolken in
den Lüften hängen. Die Haare wurden zu Bäumen, die Augenbrauen
bildeten einen Wall, der Midgard, das Land der Menschen, gegen das Meer
und die Riesen schützen sollte.
Aus Funken, die von Muspelheims Feuer herüberstoben, schufen die
Götter die Sterne, denen sie Namen gaben, und jedem wiesen sie seine
Bahn.
Die Erde ward trocken und war vom Meere umgeben, und die Erde begann
zu grünen.
Als Odin und seine Brüder einst am Ufer des Meeres wanderten,
sahen sie am Strande zwei Bäume, die Esche und die Ulme. Die gefielen
ihnen sehr.
Odin formte aus dem einen Baum, der Esche, den ersten Menschen, einen
Mann. Aus der. Ulme aber wurde ein Weib geschaffen. Odin hauchte ihnen
Leben und Geist ein, Wili gab ihnen Verstand und Gefühl, und We schenkte
ihnen die Sinne des Gesichts und Gehörs, dazu die Sprache.
Neun Reiche erschufen die Götter in der Welt, drei unterirdische,
drei irdische und drei himmlische.
Tief im Innern der Erde liegt Niflheim, das Land des Eises und der
Toten. Niflhel ist der tiefste Abgrund, in dem die Verbrecher und Meineidigen
ihre Strafe erleiden. Schwarzalfenheim heißt das Land der Nachtzwerge,
die verwachsen und häßlich sind, so daß von ihnen gesagt
wird, es sei besser, sie nicht zu beschreiben. Sie sind vieler Künste
kundig, schmieden köstliche Kleinodien und scharfe Schwerter und Waffen.
Sie schrecken und quälen bei Nacht die Menschen, sind aber auch dankbar,
wenn jemand ihnen in der Not geholfen hat.
Auf der Erde liegen Midgard, das von den Menschen bewohnt wird, und
Riesenland, in dem die Frost- und Reifriesen hausen, dann Wanenheim, das
Reich der Erd- und Wassergötter, die sich das Geschlecht der Wanen
nennen.
Im Himmel ist Muspelheim, das Feuerland, gelegen, und Lichtalfenheim,
wo die Lichtzwerge leben, schön von Gestalt und immer fröhlich.
Sie sind Freunde der Menschen. Vor allem aber ist Asgard zu nennen, das
heilige Land der Asen. Dort wohnen die Götter in zwölf Schlössern,
die sie sich erbaut haben. Eine gewaltige Brücke, Bifröst, der
Regenbogen, verbindet Erde und Himmel. Nur die Götter können
die Brücke überschreiten, die von dem klugen Heimdall bewacht
wird. Er trägt ein Horn, Giallar genannt, mit dem er am Tage der Götterdämmerung
die Asen zum Kampf rufen wird.
Aus Leib und Blut des gewaltigen Riesen Ymir haben Odin und seine Brüder
die Welt erschaffen. Midgard heißt die Erde, wo die Menschen wohnen.
Niflheim ist das Reich der Toten. Genau in der Mitte der Welt, in Asgard,
bauten sich die Götter, die Asen, ihre eigenen Wohnungen.
Dort thront Odin, der höchste Gott, den die Menschen auch Wodan
nennen, in Walhalla, der größten und prächtigsten Halle,
und waltet über der Welt und über den Menschen. Auf seinen Schultern
sitzen zwei Raben, Hugin, der Gedanke, und Munin, das Gedächtnis,
die auf sein Geheiß täglich ausfliegen, und raunen ihm ins Ohr,
was sie gesehen und gehört haben.
In heiligen Nächten sprengt Odin auf weißem Rosse mit seinem
Gefolge in wilder Jagd über die sturmgepeitschten Baumwipfel durch
die Lüfte dahin. Oft steigt er auch in menschlicher Gestalt, einen
blauen sternbesäten Mantel um die Schultern und einen breitkrempigen
Hut auf dem Haupt, zur Erde hinab, um den Sterblichen sein Mitgefühl
zu zeigen, ihnen zu helfen und ihre Gastfreundschaft zu erproben.
Im Getümmel des Kampfes trägt der Waffengewaltige eine strahlende
Rüstung und Gungnir, seinen mächtigen Speer. Er nimmt am Kampfe
nicht selbst teil, sondern reitet auf seinem achtfüßigen Roß
Sleipnir über die Walstatt und zeichnet mit dem Speer die Männer,
denen er den Tod bestimmt hat. Die Walküren, Schlachtenjungfrauen
von herrlicher Schönheit, begleiten ihn und tragen die Gefallenen
auf ihren feurigen Rossen nach Walhalla empor.
Odins Sohn Thor, der auch Donar heißt, ist der kraftvolle Donnergott.
Er hilft Göttern und Menschen und gewährt besonders den Schwachen
seinen Beistand; er hat Gewalt über Wind und Wogen, über Blitz
und Donner. Im rollenden Wagen, der von Böcken gezogen wird, fährt
er auf den Wolken dahin, in der Rechten Mjölnir, den Hammer, der nach
dem Wurfe in seine Hand zurückkehrt. Wie alle Götter wird auch
er von den Menschen nicht in Tempeln verehrt, sondern in Hainen, von den
Bäumen ist ihm die sturmfeste Eiche heilig.
In der Reihe der Göttinnen ist Odins Gemahlin Frigga, die mit
Walvater den Thron in Asgard teilt, die Königin der Götter und
Menschen; sie wird verehrt als gütige Frau, die für die Menschen
sorgt, als Beschützerin der Ehe und der häuslichen Arbeit" sie
gilt als Spenderin des Kindersegens. Der Wagen, auf dem sie durch die Lande
fährt, wird von Katzen gezogen, diese und andere häusliche Tiere,
auch Schwalbe und Storch, sind ihr geheiligt, und der wahrsagende Kuckuck.
Segenspendend und Licht schenkend schreitet Baldur, der Gott der Frühlingssonne,
der für das Gute und Gerechte kämpft, über die Erde. Sein
Bruder ist der blinde Hödur, der Gott des Winters, der Finsternis
und Kälte. Niemand liebt ihn, und überall, wo er herrschen darf,
erstickt das Leben.
Odins Bruder Loki, der Gott des Feuers, das die Leichen verzehrt, zeigt
wankelmütigen, oft tückischen Sinn und hält es bald mit
den Asen, bald mit den Riesen, die im rauhen Nordland hausen und den Frieden
in der Welt zu stören trachten; der Fenriswolf und die Midgardschlange
sind Lokis furchtbare Kinder.
Ein alter Wahrspruch kündete den Asen, daß der Wolf Fenris
ihren Untergang herbeiführen werde. Da fesselten die Götter ihn
mit List, banden das Untier an einen Felsen im Meer und sperrten ihm den
Rachen mit einem Schwert. Schauerlich heulte der Wolf in Schmerz und Wut.
Am Tage der Götterdämmerung aber wird er sich befreien und gegen
die Asen kämpfen, ebenso wie die Midgardschlange, die auf dem Grunde
des Meeres ruht und die ganze Erde mit ihrem Leib umschlingt.
In der Mitte von Asgard steht Yggdrasil, die immergrünende Weltesche,
die mit ihrer Krone hoch über das Himmelsgewölbe hinausragt und
ihre Äste über die ganze Welt hin breitet und mit ihren Wurzeln
die Hel, das Reich der Gewesenen, deckt. Am Urdbrunnen, an dem die Esche
steht, wohnen die Nornen, sie heißen Urd, Werdandi und Skuld und
wissen um das Schicksal aller Götter und Menschen. Denn niemand sonst
kennt ganz das zukünftige Geschick, selbst Odins Wissen ist Stückwerk.
Nicht immer wird Yggdrasil grünen, denn Nidhogg, der Drache, nagt
an ihren Wurzeln, und einst wird der Tag kommen, da die Weltesche welken
muß. Dann bricht Ragnarök, der Tag der Götterdämmerung,
über Asgard herein; der Fenriswolf reißt sich von seinen Fesseln
los, die Midgardschlange erhebt sich aus dem Meer, und die Riesen kommen,
Götter und Helden sammeln sich zum letzten Kampf. Dann werden Asgard
und Midgard vergehen, und alles Leben erlischt.
Thor holt
seinen Hammer
Eines Morgens bemerkte Thor mit Schrecken, daß sein Hammer fehlte.
Vergebens durchsuchte er, wild sich den Bart raufend, alle Räume seines
Hauses.
Da kam Loki, der listenreiche Gott, daher. Er konnte sein schadenfrohes
Lächeln kaum verbergen, als Thor ihm sein Mißgeschick erzählte.
"Die Riesen werden ihn gestohlen haben", versetzte Loki jedoch gleichmütig.
"Wenn du willst, werde ich bei ihnen nachforschen." Und Thor willigte ein.
Von Frigga entlieh sich der verschlagene Loki das Federgewand, flog
nach Riesenheim und brachte schnell in Erfahrung, daß der Riese Thrym,
der König der Unholde, den Hammer gestohlen und acht Meilen tief unter
der Erde verborgen habe.
"Nur um einen Preis werde ich den Hammer herausgeben'', rief der Riese
hohnlachend; "nur wenn Frigga, die schönste Göttin, meine Frau
wird!"
Als Loki den Asen diese Forderung überbrachte, schrie Frigga auf
vor Scham und Zorn, und in großer Sorge versammelten sich die Götter
und hielten Rat; denn wenn Thor den Hammer nicht zurückerhielt, so
drohte für Asgard der Untergang.
Widerstrebend ließ Thor sich schließlich durch Odins klugen
Sohn Heimdall, der als Gott des Frühlichts auch der Wächter des
Himmels ist, zu einer List überreden. Als Braut verkleidet, sollte
er in Friggas Gewand und Schmuck nach Riesenheim ziehen und selber den
Hammer holen. Loki, der verschlagene Gott, erbot sich, ihn als seine Dienerin
zu begleiten.
Voller Freude empfing der Riese Thrym die Braut, die tief verschleiert
vor ihn trat. Er ließ sogleich ein Festmahl herrichten. Man nahm
mit den Gästen in der Halle Platz und tat sich gütlich bei fettem
Ochsenbraten und schäumendem Met. Mit Verwunderung sahen Thrym und
seine Gäste, wie die vermeintliche Braut einen ganzen Ochsen, dazu
acht Lachse verzehrte und drei Kufen Met hinuntergoß.
"Acht Tage lang hat meine Herrin nicht gegessen, so sehr quälte
sie die Sehnsucht nach dir!" sagte der kluge Loki zur Erklärung des
seltsamen Gebarens.
Das hörte der Riese gern. Mit plumpen Fingern lüftete er
ein wenig den Schleier, um das holde Antlitz der Braut zu sehen. Doch entsetzt
fahr er zurück vor den Augen, die wie loderndes Feuer blitzten. "Meine
Herrin", versetzte der als Magd verkleidete Loki, "hat acht Nächte
kein Auge geschlossen, so sehr verzehrte sie das Verlangen nach dir."
Solche Worte erfreuten Thrym sehr, darum rief er befehlend: "Bringt
jetzt den Hammer des mächtigen Thor!"
Wie frohlockte Thor in seinem Herzen, als man ihm, der vermeintlichen
Braut, feierlich den Hammer als Hochzeitsgabe in den Schoß legte!
Mit ingrimmiger Wut ergriff er den Hammer, wog ihn in der Hand und
schleuderte ihn gegen den Riesen Thrym, so daß dieser mit zerschmettertem
Schädel von seinem Sitz sank. Ein wildes Getümmel erhob sich,
als Thor nun mit dem Hammer Mjölnir auf die übrigen Riesen einhieb,
bis keiner aus Thryms Geschlecht mehr am Leben war.
Der Himmel lachte und donnerte zugleich, als Thor und Loki vom rauhen
Riesenheim hinauffuhren zu Asgards leuchtenden Höhen.
Baldurs
Tod
Baldur, Odins und Friggas Sohn, war der schönste und edelste unter
den Göttern. Der blühende Jüngling, der Gott des Lichtes
und des Frühlings, des Guten und des Gerechten, wurde von allen Asen
am meisten geliebt.
Eines Tages träumte die Göttermutter Frigga einen bösen
Traum. Sie sah, wie Hel, die Todesgöttin, ihren Lieblingssohn Baldur
entführte. Auch Baldur träumte, daß sein junges Leben von
Gefahren bedroht sei. Da beschwor Odin die uralte Wala, die Seherin der
Hel, aus ihrem Grab, um sichere Kunde zu erfahren. Auf die Frage, wen man
im Reiche der Hel erwarte, erhielt er die Antwort: "Baldur, den Guten,
erwartet man. Hödur, sein blinder Bruder, wird ihn töten."
Die Asen und Göttinnen hielten, voll Sorge um das Leben ihres
Lieblings, Rat und faßten den Beschluß, daß alle Geschöpfe,
die im Himmel und auf Erden sind, einen heiligen Eid schwören sollten,
Baldur niemals etwas anzutun. Frigga selbst nahm Feuer und Wasser, Riesen
und Elben, Menschen, Tiere und Pflanzen in strenge Eidespflicht.
Von nun an verfehlte jede Waffe, die man, um den neuen Bund zu erproben,
gegen Baldur richtete, ihr Ziel. Ja es wurde zu fröhlicher Kurzweil
unter den Asen, nach Baldur Geschosse zu werfen; doch keines traf ihn.
Am Rate der Götter hatte auch der verschlagene und ränkesüchtige
Loki teilgenommen. Während die Götter nun mit Baldur ihr Spiel
trieben, wandte er sich, als Bettlerin verkleidet, an die gütige Frigga
und entlockte ihr ein Geheimnis: auf einer Eiche vor Walhallas Tor wuchs
der Mistelstrauch. Diesen, so verriet Frigga, hatte sie nicht schwören
lassen, weil er ihr zu schwach und unbedeutend erschienen war.
Schnell entfernte sich Loki, nahm seine wahre Gestalt an und eilte
zur Eiche. Er schnitt ein Zweiglein der Mistelstaude ab und kehrte in den
Kreis der Götter, die immer noch ihr fröhliches Spiel trieben,
zurück. Untätig abseits stand nur Baldurs Bruder, der blinde
Hödur. "Wie soll ich mitspielen, da ich doch des Augenlichts beraubt
bin?" versetzte er mißmutig auf Lokis Frage.
"Spanne den Bogen, hier ist ein Pfeil", sagte Loki und reichte ihm
den Mistelzweig, "ich werde für dich zielen!"
Der blinde Hödur tat nach dem Geheiß des bösen Gottes,
und, wie vom Blitz getroffen, sank Baldur entseelt zu Boden.
So hatte sich die Weissagung der Wala grausam erfüllt.
Nur Odins Wort, daß Hödur ein dem Baldur vorherbestimmtes
Schicksal vollzogen habe, schützte den Mörder vor der Rache der
Götter.
Dann schickten sie sich auf Geheiß des Göttervaters an,
Baldurs Leichnam zu bestatten.
Nie zuvor hatte in Asgard und auf der Menschenerde so tiefe Trauer
geherrscht wie jetzt um Baldur, den lieblichen Gott.
Am Strande des Meeres hatten die Asen Baldurs Schiff aufgestellt und
auf ihm den Scheiterhaufen errichtet. Als sie den Leichnam obenauf legten,
konnte Nanna, die Gattin Baldurs, den Anblick nicht Iänger ertragen,
und ihr Herz brach vor Gram. So betteten die Asen sie an Baldurs Seite.
Alle Götter gaben dem toten Sonnengott Worte der Hoffnung mit
auf den Weg. Niemand jedoch weiß, was Odin dem edlen Toten ins Ohr
flüsterte.
Thor legte die Flamme an den mächtigen Scheiterhaufen. Dabei stieß
er ein Zwerglein, Lit mit Namen, das ihm vor die Füße kam, mit
einem Tritt in die Flamme, daß es verbrannte.
Dann schoben die Riesen das Schiff in die Fluten und ließen es
die hohe See gewinnen. Immer mächtiger griff in dem wilden Fahrtwind
die Flamme um sich, und einer riesigen Opferfackel gleich jagte Baldurs
Schiff zum letzten Male über das Meer.
Als die Springflut gierig nach den brennenden Balken griff und ihre
Glut in die Tiefe zog, war es den am Gestade harrenden Asen, als versinke
die ganze Welt ringsum in Dämmerung.
Niemand trauerte mehr um Baldurs Tod als seine Mutter Frigga. War Baldur,
der Frühlingsgott, den Asen und der Menschenwelt nun für immer
entrissen? Sollte Hel, die Göttin des Totenreichs, sich nicht erweichen
lassen, den Götterliebling freizugeben?
Auf Friggas inständige Bitten entschloß sich Hermodur, der
Götterbote, seinen Bruder zu befreien.
"Ich gebe dir Sleipnir, mein Roß, für die lange Wegstrecke",
sagte Odin zu seinem Sohne, "es wird dich sicher ans Ziel führen,
denn ihm ist der Weg bekannt."
Neun Nächte ritt der Götterbote, bis der achtfüßige
windschnelle Renner die Brücke, die zur Hel hinabführte, erreichte.
Hermodur wagte es kühn, in das Reich der Toten einzudringen. Bald
sah er Baldur, den geliebten Bruder, schlafbefangen und bleich, an Nannas
Seite sitzen. Er flüsterte ihm Worte des Trostes zu. Aber lange mühte
sich der Götterbote vergeblich, die düstere Hel zur Milde zu
stimmen. Mit eisiger Kälte blickte sie ihn an. Dann ließ sie
ihre Stimme vernehmen: "Wer gestorben ist, bleibt meinem Reiche verfallen.
Auch Baldur gehört der Hel. Trotzdem will ich die Bitte der Götter
erfüllen und ihm die Freiheit wiedergeben, wenn alle Geschöpfe
der Welt, ob lebende oder tote, ihn beweinen. Verweigert auch nur ein einziges
Geschöpf diesen Anteil der Tränen, so bleibt Baldur für
alle Zeit im Reiche der Toten!''
Hermodur eilte, zum Asenhof zurückzukehren. Baldur und Nanna gaben
ihm Geschenke mit auf den Weg, die er Odin und Frigga mitbringen sollte.
Dort in Walhalla warteten alle voller Spannung auf den abgesandten
Boten. Und voller Hoffnung sandte Frigga sogleich die Alben, ihre Boten,
in die Welt hinaus, um alle Geschöpfe für Baldurs Heimkehr zu
gewinnen. "Denkt an meinen geliebten Sohn, den Frühlingsgott", ließ
sie ihnen sagen, "und weinet über seinen Tod, so wird die Göttin
der Unterwelt ihm die Heimkehr gewähren."
Friggas Mühen schien nicht umsonst: alle Geschöpfe, zu denen
ihre Boten kamen, waren voller Erbarmen und weinten um den toten Lichtgott.
Schon machten sich die Alben auf den Heimweg.
Alle Wesen, sogar die starren Steine, hatten Anteil an Baldurs Schicksal
gezeigt. Da trafen die Alben in düsterer Felsenhöhle eine grimmige
Riesin, Thögg mit Namen, die hatte um Baldurs Tod keine Träne
geweint, und kein Bitten und Flehen konnte sie rühren.
So blieb Baldur im Reiche der Hel.
Nicht wenige der Asen, die mit Betroffenheit die Weigerung des finsteren
Weibes vernahmen, glaubten, daß hier Loki sein haßerfülltes
Werk fortsetze.
Wo war der hinterhältige Mörder geblieben? Inmitten des Entsetzens,
das bei Baldurs Ermordung alle gepackt hielt, hatte der heimtückische
Loki entkommen können. Er floh nach Riesenheim und verbarg sich dort
in einem einsamen Versteck. Die Götter aber fanden seine Spur. Doch
als sie sich dem Hause, dessen vier Fenster nach allen Himmelsrichtungen
gingen, näherten, machte sich der verschlagene Loki eilig davon. Er
verwandelte sich, wie er es oft zu tun pflegte, in einen Lachs und verbarg
sich unter einem Wasserfall. Vorher hatte er ein Netz, das er sich eben
fertigte, um zu erproben, ob man ihn damit fangen könne, ins Feuer
geworfen.
Das wurde ihm zum Verhängnis, denn in der Asche noch erkannten
die Götter die Form des Netzes und wußten nun, wo und mit welchem
Mittel sie ihn fangen sollten. Mochte Loki sich auch immer wieder der Verfolgung
entziehen, die Götter fingen ihn schließlich in den Maschen
des von ihm erfundenen Netzes.
Die Rache der Asen war so schrecklich wie das Verbrechen, das Loki
begangen hatte. Sie führten ihn auf eine Insel im Reiche der Hel und
schmiedeten ihn dort an einen scharfkantigen Felsen, daß er kein
Glied regen konnte. Über dem Haupte des Verräters befestigten
die Rächer eine Natter, die ihm unablässig ihr Gift aufs Antlitz
träufelte. Zwar teilte Sigyn, Lokis Gattin, das schwere Los des Verdammten.
Tag und Nacht saß sie neben dem Gefangenen und fing das Natterngift
in einer Schale auf. Doch wenn die Schale voll war und das treue Weib sich
erhob, um sie auszuleeren, wurde Loki von brennendem Schmerz gequält,
dann wand er sich, daß ganz Midgard erschüttert wurde und die
Erde erzitterte. Dieses Erzittern nennen die Menschen Erdbeben. In solchen
grausigen Nächten heult der Fenriswolf, und die Midgardschlange regt
sich in der Tiefe des Meeres, die Wogen rauschen wild empor, und Sturmfluten
branden wider den Wall, mit dem die Götter Midgard gegen die See geschützt
haben.
Die
Götterdämmerung
Bei Menschen und Göttern herrschte tiefe Trauer, seit der Todespfeil
Baldur ins Herz getroffen hatte. Nur die finsteren Riesen, die Unholde
und die mißgestalten Zwerge frohlockten, denn mit dem Erlöschen
des Sonnenglanzes wuchs ihre Macht der Finsternis.
Böse Zeichen kündeten dem Walvater das Ende der goldenen
Zeit, die Blätter der Weltesche Yggdrasil wurden welk, und die Asen
begannen zu altern. Denn die schöne Iduna, die Göttin der Jugend,
tränkte Yggdrasil nicht mehr mit lebenspendendem Met.
Die Göttin Iduna war vermählt mit Odins Sohn Bragi, dem Skalden,
der die Gabe der Weisheit und der Dichtkunst besaß. Wenn er in Asgard
im Kreise der Götter die Harfe erklingen ließ, dann hingen alle
an den Lippen des edlen Sängers und priesen die hohe, bezwingende
Macht seines göttlichen Gesanges. Und wie Bragi, den liebenswürdigen
Odinssohn, verehrten die Asen seine Gemahlin Iduna, deren Name "Immergrün"
bedeutet und die im wundertätigen Met den Zauberschatz ewiger Jugend
bewahrte.
Auf Iduna und ihre Hilfe setzte Odin seine Hoffnung. Er sandte nach
ihr, doch mit Schrecken erfuhr er, daß die schöne Göttin
verschwunden sei. Vergebens ließ Odin seine Raben ausfliegen, um
nach der Entschwundenen zu suchen. Als sie nach langer, langer Zeit zurückkehrten,
brachten sie schlimme Kunde: Iduna, die strahlende Göttin, weilte
im Totenreich der Hel, von wo es keine Rückkehr gibt, und auch Bragi,
ihr Gatte, war ihr dorthin gefolgt, und noch andere unheilvolle Zeichen
wußten die Raben zu berichten. Den Geschöpfen auf der Erde entschwinde
die Lebenskraft, und in Mimirs heiligem Brunnen beginne die Weisheit zu
versiegen.
Voll düsterer Ahnungen hatte Walvater die unheilschwere Botschaft
vernommen. Er erkannte, daß das schicksalhafte Verhängnis unaufhaltsam
seinen Lauf nehmen werde, nachdem der lichte Baldur und die jugendfrische
Iduna zur Hel gefahren waren. In den Nächten hörten die Asen
aus den Abgründen der Unterwelt den Fenriswolf heulen, Lokis schrecklicher
Sohn zerrte gierig an seinen Ketten, denn er witterte, daß die Stunde
seiner Befreiung nahe.
Als mit Baldurs Tod die Sonne ihren Glanz verlor, fiel ein harter langer
Winter, der Fimbulwinter, ins Land. Schneegestöber dauerte an und
starker Frost, rauhe Winde tobten, und der Winter schien kein Ende mehr
zu nehmen.
In dem Wüten der Elemente war es, als liege Dämmerung auch
in den Seelen der Menschen. Arges geschah unter Göttern und Menschen.
Krieg erfüllte die Welt, Brüder töteten einander aus Habgier,
Meineid und Mord, Ehebruch und Verletzung der Gastfreundschaft geschahen,
und Gier und Gottlosigkeit herrschten.
Mit bitterer Sorge sahen die Götter im hohen Asgard, wie alle
Ordnungen sich auflösten. Vergeblich schleuderte Thor seinen Hammer
Mjölnir gegen die Riesen; denn unverletzlich saßen sie hinter
den schützenden Eiswänden des Fimbulwinters. Vergebens ritt Odin
auf pfeilschnellem Roß zum alten Mimir, dem Weisen; der Weisheitsbrunnen
war wie von wildem Sturm bewegt, in ratloser Ohnmacht stand Mimir vor dem
Verhängnis.
Da sprengt der Göttervater auf windschnellem Renner zurück
nach Walhall, um Götter und Helden zum Kampfe zu rufen; denn das Unheil
naht. Laut kräht der hellrote Hahn auf Asgards Dach, und krächzend
antwortet der dunkelrote auf Hels Halle. Die Midgardschlange erhebt ihr
furchtbares Haupt aus den Fluten des Meeres, und der Grenzwall, der Midgard
schützt, bricht. In Todesangst fliehen die Menschen in die Gebirge
und bergen sich in Höhlen, denn nun reißt sich der Fenriswolf
aus seinen Banden los, daß die Erde im Innersten erbebt.
Stürmisch braust das Meer über seine Ufer, und es kommt ein
Schiff gefahren, das von Loki gesteuert wird, und alle Riesen sind bei
ihm. Es ist Naglfari, das Nägelfahrzeug: es ist aus Finger- und Zehennägeln
der Toten erbaut, welche die Menschen ehrfurchtslos seit langem zu schneiden
unterlassen hatten. Der Fenriswolf, dessen gähnender Rachen Himmel
und Erde berührt, verschlingt Sonne und Mond, und Finsternis breitet
sich über die Welt.
Ragnarök, der Tag der Entscheidung, bricht an. Es birst der Himmel,
und in unendlichen Scharen kommen Muspelheims Söhne geritten. Surtur,
der Urweltriese, reitet an der Spitze, und rings um ihn her lodert alles
von Brandfackeln. Wild entschlossen ziehen sie nun hinaus auf das Feld
Wigrid, die Kampfebene, und mit ihrem Heereszuge sammeln sich zum Streite
alle Mächte der Finsternis.
Da dröhnt über Asgard hin das Giallarhorn, mit dem Heimdall
die Götter zum Kampfe ruft. Es ertönt so laut, daß man
auf der ganzen Welt seinen Schall hört. Wenn es zum drittenmal gellt,
öffnen sich Walhalls Tore weit, und der glänzende Heerwurm der
Götter und Helden reitet hervor. Die Spitze führt Walvater in
leuchtender Rüstung, den Goldhelm auf dem Haupte, und Gungnir, den
nie fehlenden Speer, in der Faust.
Auf Wigrid, der Walstatt des Weltenringens, beginnt die letzte entsetzliche
Schlacht. Wodans Waffe wütet unter den herandrängenden Riesen,
und gleich dem herabsausenden Blitz fährt Thors Hammer gegen die Scharen
der Unholde; in den Reihen der Asen wütet, Schrecken verbreitend,
Lokis Sohn, der grimmige Fenriswolf; unverwundbar zeigt er sich gegen alle
Waffen der Götter. Loki und Heimdall töten sich gegenseitig.
Mit Mjölnir, dem Hammer, zerschmettert Thor den Kopf der Midgardschlange;
doch auch für ihn ist es der letzte Kampf: der Gifthauch des sterbenden
Drachen reißt den gewaltigen Asen mit in den Tod.
Tyr stößt auf Garm, den Höllenhund; doch während
dieser dem Kriegsgott die Kehle zerreißt, führt der Ase mit
seinem Schwerte gegen das Untier den Todesstoß.
Lange kämpft Odin mit dem Fenriswolf, der sich mit entfesselter
Kampfesgier auf den Göttervater stürzt, und am Ende verschlingt
der Weltenwolf Walvater.
Was hilft es, daß Widar, Odins gewaltiger Sohn, zur Rache herbeieilt
und den Wolf zermalmt? Walvater, der Herr von Asgard, ist tot! Für
die Asen ist das Ende gekommen.
Surtur dringt in Asgard ein und schleudert den Feuerbrand in die Halle,
daß ringsum die glühende Lohe zum Himmel emporschlägt,
und auch Midgard geht in der gierigen Flamme auf. Die ganze Welt geht in
Flammen auf, und die wohlgefügte Ordnung des Weltalls, einst von den
Asen in weiser Sorge geschaffen, ist dahin, der allgemeine Untergang ist
da. Der Abgrund der Hel öffnet sich und verschlingt die Toten.
Schwarz wird die Sonne, die Erde versinkt. Vom Himmel fallen die heiteren
Sterne.
Glutwirbel umwühlen die allnährende Weltesche. Die heiße
Lohe bedeckt den Himmel. -So heißt es in dem Liede aus altersgrauer
Zeit, und wenn Yggdrasil, der Weltenbaum, donnernd zusammenstürzt,
ist die Welt der Götter und der Menschen in den Wassern versunken.
Doch bedeutet nach der Sage der ungeheure Weltenbrand, der Asgard und
Midgard vernichtet hat, nicht das Ende. Das Feuer hat alles geläutert,
alle Schuld gesühnt, und das goldene Zeitalter, das einst geherrscht
hat, kann wiederkehren. Ein Weltentag mit seinem Guten und Schönen,
aber auch mit seiner Schuld und seinen Fehlern ist abgelaufen, und ein
neuer Tag ist angebrochen. Aus dem Meere, dessen Wogen die Welt der Asen
verschlungen haben, erhebt sich eine neue Erde mit grünen Fluren,
die keines Menschen Hand besät hat. Und wie jener erste Tag beginnt
auch dieser mit dem Zustand der Unschuld und des Friedens, mit dem vollkommenen
Glück.
Auch die Sonne hat eine Tochter geboren, die nicht minder schön
ist als die Mutter und die nun in ihrer Bahn wandelt.
Und unter den Wurzeln der Weltesche in Urds Brunnen haben sich zwei
Menschenkinder verborgen gehalten, Lif und Lifthrasir, das Leben und die
Lebenskraft. Aus ihnen erwächst ein neues Geschlecht, das die Erde
bewohnt.
Ein neues Asgard ersteht. Baldur, der strahlende Lichtgott und sein
Bruder Hödur, der Gott der lichtlosen Winterzeit kehren aus Hels Totenreich
zurück. Auch Thors Söhne, die ihres Vaters gewaltigen Hammer
auf dem Schlachtfelde fanden, nehmen Besitz von den goldenen Götterstühlen.
Nicht gilt es mehr" die Frost- und Eisriesen zu zermalmen; denn das finstere
Riesengeschlecht ist nicht zu neuem Leben erstanden nur friedlichem Tun
dient der Hammer. Ungetrübter Friede herrscht von nun an in den himmlischen
Höhen.
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