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Die schönsten deutschen
Heimatsagen
Die weiße Jungfrau in der
Burg Osterode
Am Ostersonnabend trug ein armer Leinweber ein Stück Leinen nach
Claustal, um es zu verkaufen. Da er sich dabei verspätet hatte, blieb
er dort über Nacht. Am andern Morgen in aller Frühe machte er
sich auf den Heimweg. Als die Sonne aufging, war er schon über die
Vorstadt von Osterode, die Freiheit genannt, hinaus und näherte sich
der Söse. Da erblickte er eine weißgekleidete Jungfrau mit einem
Bund Schlüssel am Gürtel. Sie wusch sich im Fluß. Weil
sie seinen Gruß so freundlich erwiderte, faßte der Weber Mut
und fragte: "Ei, seid Ihr schon so früh aufgestanden und wäscht
Euch am Flusse?"
"Ja, das tue ich an jedem Ostermorgen," antwortete sie. "Da bleibe
ich jung und schön."
Der Leinweber sah, daß sie eine schöne Lilie an der Brust
trug. Er wunderte sich sehr darüber, weil doch zur Osterzeit noch
keine Lilien blühen.
"Ihr habt wohl einen schönen, warmen Garten, daß es bei
Euch schon Lilien gibt," forschte er weiter.
"Komm nur mit," entgegnete die Jungfrau, "ich zeige ihn dir."
Sie führte den Leinweber zu den Trümmern der Burg Osterode.
Diese nahmen sich an jenem Morgen gar seltsam aus. Eine eiserne Tür
war sichtbar, die der Weber noch nie bemerkt hatte, so oft er auch vorbeigekommen
war. Davor blühten drei Lilien. Die Jungfrau pflückte eine und
schenkte sie dem Weber.
"Nimm sie mit nach Hause und verwahre sie gut," sagte, sie.
Der Weber steckte sich die Blume an den Hut. Als er aber wieder aufschaute,
waren Jungfrau und Tür verschwunden; die alte Burgruine sah wieder
aus wie sonst. Da machte sich der Mann eilends davon.
Als er daheim die Iilie seiner Frau zeigte, meinte diese : "Das ist
keine gewöhnliche Lilie, es ist eine goldene Blüte. Du hast die
Osterjungfer gesehen."
Ja, da brauchte sich der Mann nicht mehr zu wundern, daß ihm
unterwegs der Hut so schwer geworden war. Nach der Kirche trug er die Blume
gleich zum Goldschmied. Dieser machte große Augen, als der arme Mann
das glänzende Ding auspackte. Er sagte: "Du, die Blume ist aus dem
feinsten Gold und Silber, das es gibt. Die ganze Stadt Osterode hat nicht
Geld genug, sie dir zu bezahlen."
Die Geschichte von der wundersamen Blume wurde bald im ganzen Orte
bekannt, und auch dem Rat kam sie zu Ohren. Dieser ließ den Leinweber
vorladen, und er mußte erzählen, wie sich alles zugetragen hatte.
"Du mußt deine Blume dem Herzog verkaufen," meinten die Ratsherren.
Sie fertigten ihm ein Schreiben aus, worin der ganze Hergang der Begebenheit
ausführlich und säuberlich aufgezeichnet war.
Nun reiste der Leinweber ins Hoflager. Der Herzog fand den größten
Gefallen an der Blume. "Bezahlen kann ich dir die Lilie freilich auch nicht,"
sprach er zum Leinweber, "aber ich will dir und den Deinen einen jährlichen
Betrag aussetzen, daß ihr für euer ganzes Leben versorgt seid."
Die Blume wurde von der Herzogin nur an hohen Festtagen getragen. Der
Herzog aber nahm zur Erinnerung drei Lilien in sein Wappen auf; sie sind
heute noch darin zu sehen.
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